
In den 1990er Jahren produzierte der Süddeutsche Rundfunk innerhalb der Reihe Phantastik aus Studio 13 zwei Hörspiele nach H. P. Lovecraft, die trotz inhaltlicher Änderungen zu den authentischsten Umsetzungen des Autors zählen. Beide Hörspiele sind nun in der ARD-Audiothek verfügbar.
Shadow over Innsmouth erzählt aus der Perspektive eines jungen Mannes, wie es diesen auf einer Reise durch New England in das runtergekommene Küstenstädtchen Innsmouth verschlägt. Dort trifft er auf Mensch-Fisch-Wesen, die in den mysteriösen Kult um den Meeresgott Dagon verstrickt sind. Die Kreaturen sind über das Herumschnüffeln des Fremden gar nicht erfreut und wollen ihm an den Kragen. Nachdem dem Erzähler die Flucht gelingt, macht er schließlich eine erschreckende Entdeckung, die sein ganzes Sein in Frage stellt.
Mit etwa 70 Seiten ist Innsmouth eine der längeren Kurzgeschichten Lovecrafts‘. Für das Hörspiel hat man die Handlung gekürzt, um die Geschichte in knackige 40 Minuten Laufzeit einzupassen. Das ist durchaus gut gelungen. Der Kern der Geschichte bleibt erhalten und der in der literarischen Vorlage lange Aufbau entfällt. Einige Nebenfiguren tauchen nicht auf. Die Inszenierung kann man am besten mit „behutsam“ beschreiben. Das Hörspiel hat eine überzeugende Geräuschkulisse, die den düsteren Küstenort lebendig werden lässt. Minimalistische sphärische Klänge untermalen das Geschehen; aber wenn es drauf ankommt, wird auf Musik auch ganz verzichtet. Das ist das erfreuliche Gegenteil von manch moderner überproduzierter Adaption.
Die zwei zentralen Figuren, der Erzähler und der alte Zadok Allen, der die Vorgeschichte um den Esoterischen Orden von Dagon schildert, werden von Edwin Noel und Wolfgang Reinsch gesprochen. Noel könnte man aus diversen Fernsehserien der 80er und 90er Jahre kennen. Reinsch war Gründer und Leiter des Karlsruher Kammertheaters und fungierte als Sprecher in nahezu 600 Hörspielen. Die Sprecher passen ausgezeichnet und machen das Hörspiel zu einer runden Sache. Etwas irritierend ist allenfalls, dass Innsmouth durchgängig falsch als „Innsmauth“ ausgesprochen wird.
In The Call of Cthulhu geht es um den Bostoner Anthropologen Francis Wayland Thurston, der im Nachlass seines Großonkels eine Sammlung von Dokumenten findet, die ein übernatürliches Wesen namens Cthulhu beschreiben. Zu den Dokumenten gehört eine kleine Statue des Wesens, versehen mit unleserlichen Hieroglyphen, und ein Zeitungsartikel über den norwegischen Überlebenden eines Schiffsunglücks, der von einer Insel berichtet, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Thurston versucht sich auf all das einen Reim zu machen. Durch seine Nachforschungen ist er bald davon überzeugt, dass Cthulhu tatsächlich existiert. Schlimmer noch: Alle, die von Cthulhu erfahren, erleiden einen frühen Tod. Thurston befürchtet, dass er der nächste ist.
The Call of Cthulhu oder Cthulhus Ruf, wie die Geschichte in der deutschen Übersetzung heißt, ist die Grundlage des Cthulhu-Mythos. All das, was Lovecraft und viele andere Autoren später noch zu diesem bizarren Universum beitragen sollten, hat hier seinen Ursprung. In dieser Hinsicht ist die Geschichte essentiell. Cthulhus Ruf ist nur etwa halb so lang wie Innsmouth und eignet sich somit etwas besser für eine 40-minütige Hörspiel-Umsetzung. Die Geschichte besteht aus drei Kapiteln, die sich mit einigen Anpassungen so auch im Hörspiel wiederfinden. Die größte Abweichung betrifft die Szene rund um das ikonische Necronomicon-Zitat
„That is not dead which can eternal lie,
And with strange eons even death may die.“
Lovecrafts Text wurde für das Hörspiel von Hermann Motschach bearbeitet, der hier frei formulierte:
„Wo alles stirbt, stirbt endlich auch der Tod
Doch tot ist nicht, was zeitlich liegt im Od.“
Dazu mutmaßt der Erzähler Thurston über die Bedeutung des ungewöhnlichen Wortes Od. Er kenne das Wort lediglich aus den odischen Briefen des Naturphilosophen Reichenbach, der unter Od eine Art Lebenskraft verstand. Thurston begibt sich daraufhin in die Uni-Bibliothek von Providence, um den Spruch im Necronomicon nachzuschlagen. Anstelle des originalen Necronomicons findet er dort nur eine vom englischen Astrologen und Mystiker John Dee angefertigte englische Übersetzung, die das Zitat mit dem gleichen Wortlaut enthält. Thurston schließt daraus, dass Reichenbach das Wort Od von John Dee übernommen haben muss. Außerdem stamme doch auch der Ausspruch „Was ist tot? Was ist vergangen? Alles Gewaltige lebt!“ von John Dee – und sei Cthulhu nicht auch gewaltig?
Diese kuriose Episode hat mit dem Lovecraft’schen Original nichts zu tun. Weder schlägt Thurston im Necronomicon nach, noch werden Reichenbach oder das Od erwähnt. Es ist fraglich, ob Lovecraft Reichenbach überhaupt kannte. Warum Motschach für das Hörspiel diese Szene hinzudichtete und das Od ins Spiel brachte, bleibt rätselhaft. Und das Zitat „Was ist tot? Was ist vergangen? Alles Gewaltige lebt!“, das Motschach John Dee zuschreibt, stammt in Wirklichkeit aus Gustav Meyrinks Roman Der Engel vom westlichen Fenster. Glücklicherweise schadet diese Abweichung dem Hörspiel nicht. Wer die Original-Geschichte nicht kennt, wird vermutlich gar nicht darüber stolpern. Die Prämisse bleibt dieselbe.
Die Inszenierung ist ähnlich gelungen wie die von Innsmouth. Andreas Weber-Schäfer führte Regie bei beiden Hörspielen. Der Erzähler wird gesprochen von Klaus Barner und der schon aus Innsmouth bekannte Wolfgang Reinsch spricht hier den verschrobenen Bildhauer Wilcox, der die Cthulhu-Statue kreierte.
Unterm Strich hat der Süddeutsche Rundfunk mit Innsmouth und Cthulhu zwei stimmungsvolle Hörspiele geschaffen, die dem literarischen Anspruch von Lovecraft gerecht werden. Die Kürzungen sind nachvollziehbar, auch wenn beiden Hörspielen 20 Minuten mehr Laufzeit sicher gut getan hätten. Nach der Fusion von SDR und SWF zum Sender SWR im Jahre 1998, stellte der Süddeutsche Rundfunk die Reihe Phantastik aus Studio 13 nach 30 Jahren leider ein und Innsmouth und Cthulhu blieben die beiden einzigen Lovecraft-Hörspiele. Schade. Weitere Hörspiele in diesem Stil hätte ich gerne gehört.

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