Kunst ist für immer: Inside (2023)

Der Dieb Nemo bricht in das Luxus-Apartment eines Kunstsammlers ein, um dort vier Gemälde und eine Statue von Egon Schiele zu stehlen. Ein Selbstporträt von Schiele befindet sich nicht dort, wo es eigentlich hätte sein sollen. Trotz intensiver Suche kann Nemo es nicht finden. Sein Kontaktmann, mit dem Nemo per Funk in Verbindung steht, entscheidet sich dazu, auf das Bild zu verzichten, und drängt Nemo, sich zu beeilen. Als Nemo die Wohnung verlassen will, kommt es bei der Eingabe des Alarm-Codes jedoch zu einer Fehlfunktion und das gesamte Sicherheitssystem spielt verrückt. Türen und Fenster verriegeln sich, die Heizung dreht hoch, die Lampen blinken, die Sirene heult. Schon bald wird Nemo klar: Er sitzt fest. Das Apartment ist hermetisch abgeriegelt. Weder meldet sich der Kontaktmann noch scheint der Alarm Polizei oder Hausverwaltung alarmiert zu haben. Auch auf die Rückkehr des Apartment-Besitzers kann Nemo nicht hoffen, denn der befindet sich auf Auslandsreise. Wie lange kann Nemo überleben? Das Wasser ist abgestellt und der Kühlschrank ist leer. Das Einzige, was es im Überfluß gibt, sind teure Kunstwerke.

Auf den ersten Blick sieht Inside nach einer Variante von Cast Away aus. Anders als Tom Hanks ist Willem Dafoe, der den Nemo spielt, nicht auf einer einsamen Insel gestrandet, sondern sitzt in einem Luxus-Penthouse fest. Dabei steht er aber vor ähnlichen Herausforderungen wie ein Gestrandeter. Die Resourcen sind knapp, die Kommunikation mit der Zivilisation ist nicht möglich und auf Rettung besteht wenig Hoffnung. Draußen vor dem Fenster sieht Nemo Flugzeuge fliegen und überblickt das geschäftige Treiben New Yorks. Auf den Überwachungskameras sieht er Leute im Foyer, im Treppenhaus und im Fitnessstudio, kann aber nicht mit ihnen interagieren. Das Leben, die Freiheit ist so nah, bleibt jedoch unerreichbar.

Die Tage vergehen, Wochen, vielleicht Monate. Nemo scheint das Zeitgefühl verloren zu haben, ähnlich wie der Zuschauer. Nur der Schneefall und das Silvester-Feuerwerk draußen verraten, dass eine geraume Zeit vergeht. Das Leben und das Überleben wird für Nemo zur Qual. Er kratzt das Eis von der Wand des Gefrierschranks und verarbeitet die Aquarienfische zu mehligen Muskugeln. Das Klo ist schon lange überfüllt. Er kackt in die Badewanne. Egal. Alle Versuche, zu entkommen, scheitern. Nemos ganze Hoffnung: das Dachfenster. Ein im Beton verankertes Oberlicht. Nemo arbeitet manisch daran, den Beton aufzubrechen, die dicken Bolzen zu lösen; mit Werkzeug improvisiert aus Alltagsgegenständen. Tage, Wochen, Monate.

Unter der Oberfläche dieser Geschichte transportiert der Film sein zweites Thema: was ist Kunst und was bedeutet es, Kunst zu erschaffen. Pathetischer ausgedrückt kann man auch sagen: Der Film ist ein Blick in die Seele des Künstlers und dokumentiert parabelhaft den Entstehungsprozess von Kunst. Handwerklich und geistig. Der Weg zur Kunst ist eine Tortur. Und am Ende steht sowas wie die Erlösung oder Erleuchtung. Inside ist kein religiöser Film, aber ein durch und durch spiritueller Film.

Diese zweite Ebene erzählt Regisseur Vasilis Katsoupis, der zusammen mit Ben Hopkins auch das Drehbuch schrieb, mal mittels plakativer Symbolik, mal durch kryptisch verschlüsselte Hinweise und oft durch die Kunstwerke selbst, die in dem Apartment zu finden sind. Inside ist somit deutlich mehr als ein reines Gestrandeten-Drama oder ein Escape-the-Room-Abenteuer.

Für die Kunstwerke wurde eigens ein Kurator engagiert, der die Werke drehbuchgemäß zusammengestellt hat. Es handelt sich um sowohl originale bereits existierende Werke als auch um speziell für den Film in Auftrag gegebene Werke, die teilweise in Anlehung an bekannte Stücke entstanden sind. Allen ist gemein, dass es Werke sind, die ein reicher Sammler tatsächlich auch besitzen könnte; also nichts, was unverkäuflich in einem Museum hängt.

Aber Inside ist nicht nur ein Film über Kunst. Jede Einstellung ist so perfekt gestaltet, jeder Schnitt so passend gesetzt, jeder Zoom und jedes Licht so sorgsam auf den Punkt gebracht, dass man von einem durchdesignten filmischen Gesamtkunstwerk sprechen kann. Ein Kunst-Kunstfilm sozusagen.

Bei aller Kunst und Künstlichkeit ist es der Inszenierung zu verdanken, dass der Film nicht kalt und artifiziell wirkt. Und: Willem Dafoe! Bis auf eine Traum-Sequenz, in der Dafoe mit dem Kunstsammler redet, bleiben die Menschen in dem Film unnahbar und weit entfernt. So ist Inside eine One-Man-Show, die um Dafoe herum gestaltet wurde. Und Dafoe liefert ab.

Nemo geht durch sämtliche Gefühlslagen. Von anfänglicher Panik über Ungeduld und Gleichgültigkeit bis hin zur Hoffnungslosigkeit. Zwischendurch Momente der Euphorie, wenn er das Wasser aus der Pflanzenbewässerung sammeln kann. Entspannte Feierlaune kommt auf, als er mit Erdnussbutter, Keksen und Champagner in der Badewanne sitzt, während der Kühlschrank bei offener Tür Macarena spielt. Dabei bleibt der Film über lange Strecken sprachlos. Ein paar akzentuierte Off-Kommentare und Momente, in denen Nemo zur eigenen Unterhaltung eine Kochshow imitiert oder nahe dem Nervenzusammenbruch wie ein irrer Stand-up-Comedian einen absurden Witz performt, bilden die Ausnahmen.

So passt auch das exzellente Filmposter gleich in doppelter Hinsicht. Es zeigt Dafoe in dem Apartment, das einem Glaskasten gleichkommt, und als Tagline ist zu lesen: „A solitary Exhibition“. Dafoes Figur Nemo ist auf ironische Art einer Einzelausstellung ausgeliefert. Er alleine mit den ganzen Kunstobjekten eingeschlossen im Apartment. Auf der anderen Seite blickt der Zuschauer von außen auf den Kasten und bekommt eine Einzeldarbietung von Dafoes wahnwitzigem Schauspiel geliefert.

Inside ist ein äußerst sehenswerter Film. Vorausgesetzt man findet die Verbindung zu der unterliegenden Botschaft und kommt mit der künstlerisch überhöhten Inszenierung klar. Manche mögen den Film für zu esoterisch halten. Ich finde es faszinierend, wie Inside die physische mit der geistigen Welt verknüpft; das Innere des Apartmens mit dem Inneren der Hauptfigur zu einer filmischen Ode an die schöpferische Kraft des Menschen zusammenfließen lässt. Dabei ist Inside letzlich auch ein existenzialistisches Drama. Es geht um Isolation und Einsamkeit, um Schicksal, um Bemühen und Scheitern, um Schinden und geschunden werden, um Hoffnung und schließlich um das Überwinden von physischen Hindernissen und den Barrieren im Kopf. Durch Kreativität und Willenskraft. Oder, um die Kritik mit einem schlechten Wortspiel abzuschließen: Willemskraft. Dafoe sei Dank!

Als Nemo in dem Deckenfenster seinen Fluchtweg erkennt, realisiert er, dass er zugleich zerstören muss, um zu erschaffen. Aus den teuren Designer-Möbeln ringsum baut er einen Turm, in der Hoffnung, das Dachfenster so erreichen zu können. Wie ein anspornendes Versprechen leuchtet dabei im Hintergrund an der Wand die Neonlichtskulptur von David Horvitz: „all the time that will come after this moment“. Egal, was jetzt ist. Denk daran, was kommen wird.

Später im Film, nachdem die Sprinkleranlage alles unter Wasser gesetzt hat, fällt ein Teil der Beleuchtung aus, und von dem hoffungsvollen Spruch bleibt ein ungewisses „after this moment“ übrig. Nach diesem Moment. Ja, was nur folgt auf diesen Moment? Die Szenerie erinnert an die Auswirkungen einer Flut. Die hat etwas Zerstörerisches, aber auch etwas Reinigendes, aus dem Neues entsteht.

Zum Zeitvertreib schaut Nemo die Überwachungsvideos und denkt sich Geschichten über die Leute aus, die dort auftauchen. Regelmäßig sieht er ein Zimmermädchen, auf dessen Namensschild er Jasmine entziffern kann. Einmal reinigt sie den Flur direkt vor der Apartment-Tür. Nemo ruft und hämmert gegen die Tür. Doch vergeblich. Die Tür ist zu dick, Jasmines Staubsauger zu laut. Jasmine wird für Nemo zu einer Art Hoffungsschimmer. Er bildet sich ein, dass sie ihn durch die Kamera sieht, dass eine Art von Verbindung besteht.

Eines Tages entdeckt Nemo eine Geheimtür im Kleiderschrank, die über einen grün beleuchteten engen Gang in einen Raum führt. Eine Gruft, in der die lebensgroße, täuschend echt aussehende Nachbildung des Kunstsammlers aufgebahrt liegt. Ein makaberes Memento Mori der Vergänglichkeit.

Auf der Totenpuppe liegt eine Ausgabe von William Blakes The Marriage of Heaven and Hell. Nemo blättert das Buch durch, sein Blick fällt auf Bildtafel 20 mit der schleichenden Schlange („sneaking serpent“), die sich im unendlichen Abgrund („infinite abyss“) windet, und er liest: „Opposition is True Friendship“. Eines der zahlreichen Sprichwörter, die Blakes Text entsprungen sind. Im Hintergrund leuchtet ein Neon-Schriftzug an der Wand und verkündet: „The Unseen World“. Genau gegenüber davon hängt das Schiele-Selbstporträt, das Nemo vergeblich in der Wohnung suchte. Das Unsichtbare wird sichtbar.

The Marriage of Heaven and Hell ist im Kern eine Kritik an Emanuel Swedenborg und seiner theologischen Lehre. Für Swedenborg gilt im biblischen Sinn, dass Himmel und Hölle Gegensätze sind. Blake bricht diese Vorstellung und definiert ein vereinigtes Bild, in dem Himmel und Hölle nicht absolut in gut und böse unterteilt sind. Himmel und Hölle sind vielmehr psychologische Zustände. Wo für Christen das Höllenfeuer der Strafe brennt, lodert für Blake eine chaotische geistige Schöpfungskraft, eine kreative Energie. Der Himmel hingegen steht für die etwas langweilige Vernunft. Analog dazu werden Dämonen als farbenfrohe, geistreiche Kreaturen beschrieben und Engel als blass und missvergnügt.

Dieser Gegensatz findet sich auch bei Körper und Seele, die nach religiösem Dogma getrennt sind. Der Körper steht dabei immer für das Schlechte und die Seele für das Gute. Blake beschreibt diese Vorstellung als Fehler aller heiligen Schriften. Stattdessen proklamiert er, dass sich Körper und Seele nicht unterscheiden lassen, weil der Körper ein Teil der Seele ist mit den fünf Sinnen als Haupteinlässe („chief inlets of soul“). Weiter sagt er, dass die Energie, die dem Körper entstammt, das einzige Leben ist; und die Vernunft die äußere Hülle, die die Energie begrenzt.

HImmel und Hölle, Körper und Seele, Energie und Vernunft. Laut Blake sind diese Gegensätze essentielle Bestandteile der menschlichen Natur. Ohne Gegensätze gibt es keine Entwicklung, kein Fortschreiten. Die „Verheiratung“ von Gegensätzen führt zu Klarheit und letztlich zur Befreiung aus dem eigenen Gedankenraum, „indem die Oberfläche weggeschmolzen und das Unendliche, was versteckt war, freigelegt wird“. In diesem Sinn ist „Opposition is True Friendship“ zu verstehen. The Marriage of Heaven and Hell ist nicht nur ein Gegenentwurf zu den orthodoxen Moralvorstellungen, sondern auch ein Aufruf zu rebellieren und sich von Repressionen zu befreien. Und letztlich zu erschaffen und zu kreieren.

Als Nemo den Geheimraum verlässt, fällt sein Blick auf das Bild, das anstelle des Schiele-Porträts im Schlafzimmer an der Wand hängt. Eine infernalische Orgienszene, in der sich der Kunstsammler selbst hat verewigen lassen. Aus seinen Augen quellen blasenähnliche Formen heraus. Das Bild wurde vom griechischen Künstler Stefanos Rokos speziell für den Film angefertigt.

Die Kamera zoomt langsam auf ein Detail am unteren linken Bildrand. Man sieht eine Figur, die eindeutig wie Nemo aussieht. Diese Figur hält eine Frau. Wie Schlangen kommen gespaltene Zungen aus ihren Mündern und züngeln sich an. Gegenschnitt auf Nemo, der das Gesicht verzieht und in Selbsterkenntnis „Du!“ rauspresst. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der dünne. ausgemergelte Körper auf Schieles Selbstporträts optisch auch ein wenig an Nemo/Willem Dafoe erinnert. Laut Regisseur kein Zufall.

In der nächsten Nacht träumt Nemo. In seinem Traum geht er vom Wohnzimmer aus eine Flugzeugtreppe hinab in eine weitläufige Ebene, wo gerade eine Vernissage stattfindet. Frauen und Männer in Abendgarderobe prosten sich mit Sektgläsern zu und diskutieren. Im Hintergrund flackern Videobilder über die Wand. Dabei hört man Nemo gedanklich rezitieren und aus dem Spruch „All the time that will come after this moment“, der im Wohnzimmer an der Wand prangt, wird:

„This Moment. All the Time.
This Moment. All… will come after.
After this Moment… all will come.“

Nach diesem Moment wird alles passieren.

Wie William Blake in The Marriage of Heaven and Hell die Hölle besucht, steigt Nemo in seine eigene Unterwelt hinab. Die Flugzeugtreppe erinnert an eine Fotografie, die zuvor im Film zu sehen war; als die unerträgliche Hitze endlich abnahm und Nemo sich hoch in den kühlen Luftstrom der Klimanlage streckte. Dort hing an der Wand die Fotografie einer Flugzeugtreppe, gefüllt mit Menschen, die offenbar das Flugzeug verpasst hatten oder auf das nächste warteten. Ein seltsamer Zustand zwischen Aufbruch und Zurückgelassensein. Eine ähnliche Situation, in der sich Nemo jetzt befindet. Das Foto stammt aus dem Kurzfilm Centro di permanenza temporanea von Adrian Paci, in dessen Werken es um Heimat und Identität geht.

Unten angekommen wird Nemo von keinem Geringeren als dem Kunstsammler selbst begrüßt. Wie einem alten Freund klopft er Nemo auf die Schulter. „Schön, dass du kommen konntest!“. Der Kunstsammler fragt Nemo: „Wie ist deine Meinung? Ist niemand eine Insel oder ist jeder eine Insel?“. Nemo antwortet: „Ich bin eine Insel. Aber frag mich mal nach ein paar Cocktails.“. Der Kunstsammler lacht: „Ha, ha, that’s the spirit!“.

Wenn das die Hölle ist, ist der Kunstsammler dann der Teufel? Bevor Nemo den Geheimgang zur grünen Gruft entdeckte, machte er sich einen Spaß daraus, eine große Fotografie im Wohnzimmer zu bekritzeln. Auf dem Foto waren zu sehen: der Kunstsammler, seine Tochter und sein Hund. Der Tochter malte Nemo ein Lächeln ins Gesicht und setzte ihr eine Krone auf, dem Hund gab er den Heiligenschein, und dem Kunstsammler Hörner, Ziegenbart, Schwanz und Dreizack.

Das Foto wurde vor einem großen blau-goldenen Gemälde aufgenommen, bei dem es sich um ein Bild des brasilianischen Künstlers Maxwell Alexandre handelt. Interessanterweise trägt das Bild den Titel „Se eu fosse vocês olhava pra mim de novo“: „Wenn ich du wäre, würde ich mich noch einmal ansehen“. Der Künstler hat das Bild selbst mal so erklärt, dass es für das Gefühl steht, sich seines Standes und seiner Fähigkeiten bewusst zu sein. Stolz zu sein. Die Figur auf dem Bild blickt nach oben und das ganze Gold regnet auf sie hinab. Alexandres Worten nach „ist das der Höhepunkt des Selbstwertgefühls, der Gipfel des Narzissmus. Pures Empowerment.“ Das passt gut zu dem Kunstsammler – und dem Teufel.

Im Traum entdeckt Nemo dann unter den Gästen Jasmine. Statt Haushälterinuniform trägt sie ein elegantes Kleid. Beide schauen sich an. Der Kunstsammler verabschiedet sich von Nemo: „Fühl dich ganz wie zu Hause. Ich seh‘ dich später.“. Im Vorbeigehen lehnt sich der Kunstammler zu Jasmine hinüber und flüstert ihr etwas ins Ohr. Was, bleibt unklar. Nemo wendet sich ab und geht langsam in Richtung Treppe. Währenddessen hört man noch im Hintergrund den Kunstsammler, wie er den neuen Film des Künstlerduos MASBEDO, erläutert, der an der Wand flimmert: „Die Puppe, die Marionette… war lange Zeit ein Symbol für die Unausweichlichkeit des Schicksals. Wir sind Marionetten. Und die Götter ziehen unsere Fäden und bestimmen unser Handeln. Haben wir einen freien Willen oder sind wir nur Marionetten in einer Show, die von unsichtbaren Händen gesteuert wird?“ Nemo geht die Treppe hoch und wacht auf.

Nemo arbeitet weiter daran, die Verschraubungen am Dachfenster zu lösen. In den Pausen malt er mit Kohle an der Wohnzimmerwand an einem riesigen Bild. Links sieht man ein Haus mit verschlossener Tür, durchgestrichen. Und ein verkümmertes Auge, durchgestrichen. Gegenüber malt Nemo ein leuchtendes, sehendes Auge und das Haus mit offener Tür. Zwischen den beiden Seiten: eine Sanduhr, durch die die Zeit rinnt. Davor hat Nemo einen Schrein errichtet, auf dem er die einzelnen Muttern des Dachfensters aufbahrt. Das Gesamtwerk; Nemos Weg zur Freiheit.

Nachts, erneut ein Traum oder ein Fieberwahn. Man weiß nicht so recht, denn Nemo hat sich das Bein gebrochen. Jasmine erscheint. Sie berührt Nemo, die Münder nähern sich. Doch es bleibt bei einem Hauch und nur der Andeutung eines Kusses. Schon ist Jasmine wieder verschwunden. Man erinnert sich an Nemos vorherigen Traum, in dem der Kunstsammler Jasmine etwas zuflüsterte. Und an das Gemälde von Stefanos Rokos, auf dem Nemo zusammen mit der Frau zu sehen ist.

Schließlich, mit der letzten Schraube des Dachfensters in der Hand, schreitet Nemo wie in einer Prozession in Richtung seines selbst errichteten Altars und singt mantraartig wiederholend „I’m going to heaven on a hillside“. Bedächtig legt er die letzte Schraube auf den Altar. Dort befinden sich nun zwölf Schrauben in vier mal drei Reihen. Zwölf, die göttliche Zahl. Die Drei steht im Christentum für die Trinität und die Vier für das Weltliche (vier Himmelsrichtungen, vier Elemente, vier Jahreszeiten, usw.). Auf diese Weise verbindet die Zwölf symbolisch Gott mit dem Menschen oder den Himmel mit der Erde.

Mittlerweile wurde der Altar von Nemo erweitert. Rechts steht das Schiele-Porträt aus der grünen Gruft. Links ein Wasserfarbenbild, das von Francesco Clemente unter dem Titel „After and Before“ für den Film angefertigt wurde. Es ist eine Hommage an Christina’s World von Andrew Wyeth, das im MoMA hängt. Das Bild der kriechenden Frau im Feld mit dem Haus im Hintergrund symbolisiert das Bemühen, etwas zu erreichen, das unerreichbar zu sein scheint.

Es ist vollbracht, das Werk getan. Der Weg in die Freiheit steht offen. Doch bevor Nemo sich endgültig aus dem Staub macht, hinterlässt er dem Kunstsammler eine Nachricht an der Wohnzimmerwand. Hier nimmt er die Geschichte auf, die er schon ganz am Anfang des Films aus dem Off erzählt hat:

Als ich ein Kind war, fragte mein Lehrer, welche drei Dinge ich aus meinem Haus retten würde, wenn es in Flammen stünde. Ich antwortete: Mein Skizzenbuch, mein AC/DC-Album und meine Katze Groucho.

Meine Katze ist gestorben. Das AC/DC-Album habe ich einem Typen namens Kojo geliehen und nie wieder gesehen.
Aber das Skizzenbuch… habe ich behalten.

Katzen sterben. Musik verklingt.

Aber Kunst ist für immer.

Als Geste meiner Dankbarkeit für deine Gastfreundschaft, habe ich drei deiner Dinge vor der Zerstörung bewahrt. Ich habe nur eine kurze Zeit bei dir gelebt. Für dich war es ein Zuhause. Für mich war es ein Käfig. Es tut mir leid, wenn ich es zerstört habe… Aber vielleicht musste es zerstört werden. Letzten Endes gibt es keine Schöpfung ohne Zerstörung.

„I’m going to heaven on a hillside“ rezitierend macht sich Nemo auf den Weg in die Freiheit. Nemos Flucht ist als langsames Verschwinden inszeniert. Als Nemo die Botschaft für den Kunstammler an die Wand schreibt, sieht man noch seinen gesamten Oberkörper. Während er durch sein Skizzenbuch blättert, sind dann nur die Hände und ein Teil des Hinterkopfs sichtbar. Als er schließlich den aus Möbeln zusammengebauten Turm empor klettert, ist alles, was man sieht, seine Füße. Und dann nichts mehr.

Die Kamera fährt über Details des Apartments hinweg und der Film endet in der Totalen des gigantischen Turms mit dem gleißend weißen Licht des Dachfensters. Dass der Turm an eine moderne Kunstinstallation erinnert, ist natürlich kein Zufall; so wie nichts in dem Film Zufall ist. Tatsächlich wurde der Turm von einem Kunstprojekt von Joanna Piotrowska inspiriert, von dem man Bilder ganz zu Anfang des Films entdecken kann.

Wie man es von einem guten Kunstwerk erhofft, bleibt auch bei Inside am Ende viel Spielraum zur Interpretation. Ist Nemo tatsächlich die Flucht gelungen? Oder stellt Nemos Leidensweg im Apartment vielleicht eine Art Läuterung dar, an dessen Ende die Himmelfahrt steht? Ist der ganze Film nur ein metaphysisches Erlebnis? In einer Kritik, die ich irgendwo gelesen habe, behauptete der Autor, es handele sich bei Nemo um die Darstellung eines Demenzerkrankten und führte dies in erster Linie auf die Isolation und die Unfähigkeit des Protagonisten, mit der Außenwelt zu kommunizieren, zurück. Das ist ein sehr interessanter Gedanke, der mir nicht gekommen ist, und den ich auch nicht unbedingt teilen würde. Dies zeigt aber, dass jeder Zuschauer aus Inside etwas anderes herausziehen kann, entsprechend den eigenen Erfahrungen und Erwartungen. Nur eines macht der Film universal und unmissverständlich deutlich: Art is for keeps. Die Kunst bleibt.

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