
Meine letzte Übersetzung eines Briefs des belgischen Malers Félicien Rops (1833-1898) ist schon eine Weile her. Unter anderem weil das Rops-Brief-Archiv zwischenzeitlich nicht erreichbar war. Nun ist das Archiv wieder online, mit responsiver Suchfunktion, besser denn je. Damit ist es höchste Zeit, mir ein weiteres Schriftstück des „infamen Fély“ vorzunehmen.
Den folgenden Brief hat Rops an den frankobelgischen Autor Henri Liesse (1849-1921) geschrieben. Liesse war ein Freund von Rops und beide standen in regem Briefkontakt. In dem Brief berichtet Rops von einer kleinen Liaison in den Überbleibseln einer römischen Villa, schwelgt in Erinnerungen aus seine Kindheit und erlaubt sich auch wieder mal einen Seitenhieb auf das Großbürgertum.
Der Brief ist undatiert. Franz Blei zitiert einen Teil des Briefs in seinem Buch (Félicien Rops, Brandus 1907) und gibt den Oktober 1872 an. Laut Rops-Archiv stammt der Brief aber von 1874.
Mein lieber Freund,
stellen Sie sich vor, ich habe acht Tage in Acoz 1 verbracht, um alles zu porträtieren, was mir vor die Sinne kam, von den alten Eichen bis zu den hübschen Maschinen, einschließlich der Hunde und des Gärtners. Der rosarote Morgenmantel hat sich in die ehelichen Himmel erhoben, ohne für die Arme Modell zu stehen! Seien Sie beruhigt, wir werden ihn gemeinsam in Buysingen zurückfordern; das ist wohl ein angemessener Ausgleich für Sie! 2
Ich werde am Samstag in Brüssel ankommen. Doch werde ich an jenem Abend ab acht Uhr nicht frei sein, denn eine kleine Dame, blond wie ein neuer Taler, wünscht meine Meinung über die Rundung ihres Beines zu hören. Solche Dinge kann man als männlicher Künstler kaum ablehnen; es gehört sich schließlich, seinem Geschlecht und seiner Kunst gegenüber höflich zu bleiben!
Ich traf sie im Dorf Gerpinnes in einer römischen Villa, die ich am Vortag entdeckte. 3 Ich hatte kolossal getrunken – zu viel von einem Romanée 1858; ich sah die Pappeln über ihre Wipfel hinaus und die Kirchtürme über ihre Wetterhähne hinweg. Ich summte unbekannte zauberhafte Melodien in Dialekten, geboren durch die Umstände.
So gelangte ich zu den Ruinen, wo ich glaubte, irgendeinen Haghemans 4 oder Théodore Juste 5 zu finden, der die Überreste begutachtete. Doch stattdessen erblickte ich ein kleines, blondes, junges Fräulein 6, das mich anlächelte und fragte:
„Sie sind es, nicht wahr, Monsieur? Sie sind Monsieur Octave?“ 7
„Ich bin es, war es oder muss es sein!“, entgegnete ich ihr unter dem Eindruck des Romanée 1858. „Doch in diesem Moment heiße ich Quintus Flavius und bin Centurio; ein römischer Offizier, der sich der Aufgabe widmet, blonden Damen die ceintures abzunehmen!“ 8
„Ich trage niemals eine ceinture, Monsieur!“
„Genau wie ich! Lassen Sie uns unsere Herzen vereinen; könnten wir uns nicht darauf verständigen, diese Villen neu zu bevölkern?“
Wir verstehen uns. Sie ist eine Lehrerin „ohne festen Platz“ 9, die eine Anstellung sucht. Sie kommt aus dem Schloss des Dorfes, wo sie die Aufgabe hat, den beiden jungen Schlossbewohnern etwas Bildung einzuflößen – und das ohne fremde Hilfe beim Knöpfen ihrer Kleider! Ich bat sie um entgegengesetzte Dienste – und wurde abgewiesen!
Ich habe ihr wohlgerundetes Bein gesehen, wie es die Romanze besingt, und werde sie in Brüssel wiedersehen, wo wir unter den großen Bäumen von La Cambre 10 Musset lesen werden. Allgemeine Regel für Lehrerinnen: Schaue ihnen in die dunklen Augen und sage: „Auch Sie lieben Musset, oh Musset. Namouna!“ 11 Das funktioniert immer.
Egal, sie ist hübsch wie ein Fragonard 12, hat Muttermale bis in den Rücken, achtzehn Jahre und Musset! Was könnte man von den Göttern noch verlangen?
Und so kam es, dass ich wegen all dieser Treffen in den Ruinen römischer Villen unendlich lange in Acoz blieb – oh, die Archäologie!
Apropos, mein Freund, wären Sie so freundlich, mir am Sonntag ein Treffen mit Elmire 13 zu ermöglichen? Ich habe mich wie ein Saaldiener gegenüber dieser guten Seele benommen, die das nicht verdient hat. Anbei ein kleines Schreiben, das Sie ihr bitte überreichen. Darin entschuldige ich mich dafür, ihr nicht geschrieben zu haben. Und ein weiteres für Artan 14; wenn er bereits nach Blankenberge 15 aufgebrochen ist, senden Sie es bitte an Madame Marchand im Hôtel des Bains 16.
Könnten wir am 12. nach Blankenberge aufbrechen? Passt Ihnen das?Übermitteln Sie bitte umgehend den Brief an Lemonnier, ich zähle auf Sie.
Hier gibt es nichts Neues – die großen Weiden singen im Wind, und die Ulmen nehmen düstere Mienen an, die den Herbst ankündigen. Die leuchtenden Nebel des Septembers werden bald kommen und mich an die schönen Jagdausflüge meiner Kindheit erinnern: Die Hunde, die kläffend im Hof losgelassen wurden, Triquet, der Wächter, bereits von Tau bedeckt, nachdem er den Wald durchstreift hatte, mein Onkel, gegürtet und fest geschnallt, prüfend, aus welcher Richtung der Wind weht, um zu entscheiden, ob er die Marnières nehmen oder die Grande Mailloterie über die Croix Rouge hinaufgehen soll. Wo ist der Schnee von gestern? Heute sind die ehrfurchtgebietenden großen Wälder, in denen ich aufwuchs und die uns in den Ferien großzügige Bündel Zweige gaben, von den Sonntagsjägern aus der Rue de la Madeleine überrannt – Jäger in apfelgrünen Jacken und Handschuhen aus Wildleder, die zwar einen Hasen beim Sprung verfehlen, aber sicher niemals ein bien-aller 17 blasen würden.
Selbst die Wildschweine haben sich mit rotem Haupt zurückgezogen, beschämt darüber, von solchen Leuten ohne Kälberwaden gejagt zu werden, die von Offenbach-Liedern und Champagnerkorken gestört werden.
Die Wilddiebe achteten immerhin die „von Thozée“ 18, weil sie wussten, dass ihre kranken Frauen und Kinder immer eine Flasche Bordeaux fanden, die ihnen wieder Leben einhauchte und ihre Wangen rosig machte – dass man den Familienvater nicht ins Gefängnis steckte, der vor einer Kirmes einen Hasen am Waldrand erlegte – dass unsere einheimischen Pferde, keine englischen, stets bereitwillig halfen, die verspätete Ernte des Nachbarn einzuholen – dass der Wagen des Schlosses die Straßen entlangrollte, um die Arbeiten der Armen und den Wintertransport zu erledigen. Denn schließlich litten wir mit ihnen und lebten ihr Leben; der Regen, der unseren Rücken durchnässte, durchnässte auch ihre Rücken. Der Gutsbesitzer in seinen einfachen Gamaschen war nicht reich, sogar ein wenig arm, wenn das Heu auf den Weiden verfault war, und dieser rauhe Bauer, der unter den Oktoberböen gebeugt war und mit dem Hacken das Schiefergestein der Plateaus durchbrach, glichen einander.
Als sie nach der Vergabe der Jagdrechte durch die Gemeinden sahen, wie diese bourgeoisen Söhne, herablassend, mit dem Monokel im Auge und fett sprechend, mit den Mädchen tändelnd, sich die Wälder der Ardennen von der Sambre bis zur Semoy aneigneten, war die Empörung in den Pfarreien groß! Die von Devant-les-Bois und Pont de Loup, die von Bruyères-Corroy und Matagne-la-Grande, die von Villers-Poteries und Villers-en-Fagne, die von Bruly-le-Petit und Bruly-Viroin – die Holzfäller von der Marlagne und die Kohlebrenner von der Thiérache – sie alle nahmen wieder ihre alten Gewehre mit Kupferbeschlägen zur Hand, die einst in den großen Kriegen zur Zeit der Grenadiere der Sambre und Meuse gedient hatten, und durchstreiften wie in alten Zeiten die Dickichte, schlugen die Gebüsche in Gruppen, trieben die Wildhüter und das Wild vor sich her und ließen die Milane über ihren Felsen kreisen.
Ich, zu jung, um mich zur Ruhe zu setzen, habe mein gutes Lefaucheux-Gewehr 19, dessen Damastmuster auf meiner Schulter verblasst ist und das so tapfer Schnepfen im November unter den Erlen von La Mare aux Pies erlegte, neben das Ladestockgewehr 20 meines Vaters gehängt und stattdessen den Wanderstab und den Rucksack des Landschaftsmalers ergriffen, so sehr verachtet von den Figurenmalern:
„Wilderer bin ich nicht,
Jäger mag ich nicht sein,
Malerei ist meine Pflicht!“
Und so, mein lieber Freund, bin ich Landschaftsmaler geworden und ließ Sie in der Hitze von 36 Grad im Biesme-Tal verdorren!
Auf bald, nicht wahr? Ich werde Ihnen schreiben. Paul 21 sendet ebenfalls seine Grüße, und meine Frau 22 dankt Ihnen für Ihr freundliches Andenken und lädt Sie ein, uns wieder zu besuchen.
F
Ich habe bei Pirmez eine jüdische Italienerin gefunden, die Modell stand – ich hatte drei Minuten Zeit für eine Skizze, die ich Ihnen sende, um Ihnen die Wartezeit zu versüßen. Vergessen Sie nicht Fräulein Elmyre!
Sagen Sie Lemonnier 23 sofort, mein lieber Freund, dass ich ihm morgen ohne Fehler einen langen Brief schreiben werde – sehr lang – um ihm viele notwendige Dinge zu erklären. Ich werde ihn Ihnen zusenden.
Sagen Sie ihm auch, dass ich am 10. in Brüssel ankommen werde. Oder am 9. oder 11., ich weiß es noch nicht genau. Ich gehe wegen meines Hauses, das mir Sorgen bereitet. Mein Architekt ist entschieden ein dummer Grobian.
Wir könnten mit Lemonnier zu Abend essen. Ich glaube, er und ich könnten unsere von der Vorsehung überstrapazierten Nerven intelligent vereinen.
Ihr ergebener
FélyBrux
Thozée
Acoz, Gemeinde Gerpinnes, Province de Hainaut, Belgien (Google Maps) ↩︎
In äußerst blumiger Sprache beschreibt Rops mit der Metapher des Morgenmantels eine Frau, die er porträtieren wollte, die sich dann aber zierte, nachdem sie heiratete. Das Porträt war womöglich für Liesse gedacht und Rops schlägt vor, bei der Frau in Buizingen (Google Maps) noch einmal zu insistieren. ↩︎
In Gerpinnes wurden 1872 die Überreste einer römischen Villa aus dem 3. Jahrhundert entdeckt, die Villa romaine d’Augette (Google Maps), benannt nach dem Hügel Augette. Was zunächst wie ein Kolumbarium (Urnenkammer) oder Lararium (Kultschrein) aussah, entpuppte sich als Keller, der zu einer Villa mit drei Haupthäusern, Badehaus und Hypokaustum (Luftflächenheizung) gehörte. Es war eine der ersten großen römischen Villen, die in Belgien entdeckt wurden. Ausführliche Informationen findet man in dem Ausgrabungsbericht der belgischen Société Royale Paléontologique & Archéologique von 1875 und in Bathing at the Edge of the Roman Empire (Prepols, 2023). Der Keller wurde überdacht und ist heute zur Besichtigung zugänglich. Siehe Bild 1. ↩︎
Gustave Hagemans (1830-1908), belgischer liberaler Politiker und leidenschaftlicher Hobby-Archäologe. Er reiste 1876 zusammen mit Rops nach Schweden und Norwegen. ↩︎
Théodore Juste (1818-1888), belgischer Historiker. In einer Karikatur für die satirische Zeitschrift Le Crocodile beschrieb Rops einst die Bücher von Juste als ähnlich einschläfernd wie Äther und Chloroform. Siehe Bild 2. ↩︎
Rops bezeichnet das Mädchen als „blonde et bleue“. Im Französischen entspricht „blau sein“ dem deutschen „noch grün hinter den Ohren sein“. Sie war also blond, jung und unerfahren. ↩︎
Octave Pirmez (1832-1883), belgischer Autor und Poet. Lebte mit seiner Familie im Schloss von Acoz. Laut Encyclopedia Britannica war er von nachdenklicher, zurückhaltender Natur und lebte ein „ereignisloses Leben“. Sein Menschenbild sei pessimistisch gewesen und er glaubte, die menschliche Vernunft sei nicht in der Lage, Gefühle und Leidenschaften zu kontrollieren. Rops bezeichnete Pirmez als „Dichter des Herbstes“. Rops scheint eine gewisse Bewunderung für Pirmez gehabt zu haben, obwohl beide offensichtlich völlig gegensätzliche Charaktere waren. In einem Brief an Pirmez, warf Rops ihm vor: „…glauben Sie mir, Ihr Fehler, Ihr größter Fehler, der mehr als ein Fehler, ja fast ein Laster ist, ist, dass Sie das Leben nicht genug lieben“. Rops sah sich zusammen mit Pirmez auf der gleichen Seite gegenüber der Bourgeoisie, die „uns Realisten [nennt], ohne zu wissen, was das ist; und diese grotesken Marionetten, deren entartete Gesichter alle kleinlichen und niederträchtigen Laster widerspiegeln, beschuldigen uns, hässlich zu sein.“ ↩︎
Wortspiel zwischen den Wörtern centurion und ceinture (Gürtel), die ähnlich klingen. ↩︎
Rops schreibt, die Lehrerin sei „en rupture de bancs“. Es liegt nahe, dass er eigentlich „rupture de ban“ meint. Grammatikfehler sind nicht selten in Rops‘ Briefen. „Rupture de ban“ bedeutet so viel wie alles hinter sich zu lassen und auch sich von der Gesellschaft abgewandt zu haben. Es ist allerdings auch möglich, dass es es sich um eine kreative Formulierung seitens Rops handelt und sich das „bancs“ auf die Sitzbänke in der Schule bezieht. Die Lehrerin hätte somit schlicht ihren traditionellen Arbeitsplatz verlassen und suchte eine freie Anstellung. ↩︎
La Cambre, Stadtteil von Brüssel (Google Maps). Vor allem durch das ehemalige Kloster bekannt. ↩︎
Namouna, 1832. Gedicht von Alfred de Musset, in dem er – satirisch getarnt als conte oriental – dem klassischen romantischen Don Juan einen Dandy gegenüberstellt, der nur das sinnliche Vergnügen sucht und vor jeder emotionalen Bindung flüchtet. Der zeitgenössische deutsche Literaturwissenschaftler Eduard Engel bezeichnete das Gedicht wohlgemeint als „poetische Plauderei“. ↩︎
Jean-Honoré Fragonard (1732-1806), Maler des Rokoko. Bekannt für seine Bilder der verdeckten Erotik (siehe z. B. Die Schaukel). ↩︎
Elmyre Jansen. Über die Frau ist nur wenig bekannt. Ihr Name taucht öfter in Rops‘ Briefen auf und er nennt sie „eine gute Freundin“. ↩︎
Louis Artan (1837-1890), niederländisch-belgischer Maler. Gründete zusammen mit Rops die Société internationale des aquafortistes, die internationale Gesellschaft der Radierer. 1875 schloss sich Artan zeitweise Rops in dessen Atelier in der Rue du Bac in Paris an. ↩︎
Blankenberge, Belgien (Google Maps). Berühmter Badeort, wo Ende des 19. Jahrhunderts die Luxushotels aus dem Boden schossen. Während der Belle Époque entwickelte sich Blakenberge zum beliebten Urlaubsort der Reichen und Prominenten. ↩︎
Hôtel de Bains in Spa, Teil der antiken Thermalbäder (Google Maps). Waren lange Zeit außer Betrieb. 2025 soll ein Luxushotel eröffnen. Siehe Bild 3. ↩︎
Bien-aller, wörtlich: gut gehen. Ein Jagdhornsignal, das signalisiert, dass das Wild aufgespürt wurde und sich in Bewegung gesetzt hat. Die Jagd geht also weiter und verläuft gut. Beispiel. ↩︎
Thozée, heute Mettet, Belgien. Dort steht das Château de Thozée (Google Maps). Das Schloss befand sich seit 5 Jahrhunderten im erweiterten Familienbesitz von Rops‘ Ehefrau Charlotte Polet de Faveaux (1835-1929). Rops lebte zwischen 1852 und 1874 vorwiegend dort. Das Schloss diente auch als Ort der Freizeitgestaltung und der Begegnung zwischen Persönlichkeiten aus dem belgischen und französischen Kunst- und Literaturkreis. Heute befindet sich das Schloss im Besitz der Rops-Stiftung und ist Museum, Archiv und künstlerische Veranstaltungsstätte. Siehe Bilder 4 und 5. ↩︎
Flinte mit Lefaucheux-Zündung. ↩︎
Altes Vorderladergewehr mit Ladestock. ↩︎
Paul Rops (1858-1928), Sohn von Félicien Rops und seiner Frau Charlotte Polet de Faveaux (1835-1929). ↩︎
Charlotte Polet de Faveaux (1835-1929), Tochter eines Richters aus Namur. 1857 Heirat mit Rops. 1874 wurde ihr Rops‘ fortwährende Untreue zu viel. Eine Scheidung war aus rechtlichen Gründen nicht möglich, daher einigte man sich auf Gütertrennung. Rops verließ Belgien und ging nach Paris. ↩︎
Camille Lemonnier (1844-1913), belgischer Schriftsteller. Die französische Wikipedia behauptet, Lemonnier sei Rops‘ Cousin gewesen. Eine Falschinformation. Die beiden kannten sich lediglich gut und schrieben sich insbesondere nach 1870 vermehrt. Lemonnier traf Rops einen Tag nach der Schlacht von Sedan, wo sich beide einen Eindruck vom Schlachtfeld verschafft hatten. Lemonnier schildert in seiner 1908 veröffentlichten Monographie Félicien Rops, l’homme et l’artiste ergreifend die Begegnung:
Plötzlich durchquerte jemand in Gamaschen, den Rucksack auf dem Rücken, die Szenerie.
— Rops!
— Sie!
Er war einer der Ersten gewesen, die aufgebrochen waren, dem Strom voraus, der sich von überall aus Belgien nach Bouillon, La Chapelle, Givonne, Sedan ergossen hatte. Es war der zweite Tag nach der Schlacht: Während wir gerade erst ankamen, kehrte er bereits zurück, mit der frischen Grauenhaftigkeit des Gemetzels im Herzen. Ich hatte ihn seit Brüssel nicht mehr gesehen, und nun stand er vor mir – angespannt, nervös, verdreckt, den ganzen Tag durch Urin, Eingeweide und faulige Erde gestapft, vollständig durchdrungen vom Gestank des Schlachtfeldes. Er und sein Freund Léon Dommartin, der ihn begleitete, waren marschiert wie Soldaten, mit ausgetretenen Stiefeln, erschöpft, ihre Künstlerrucksäcke geschultert wie militärische Ausrüstung. Ich schilderte unsere Notlage.
— Ich habe Ihre Angelegenheit geregelt, sagte er. Kommen Sie. Es ist zwanzig Schritte von hier.
Wir gelangten zu einem bescheidenen Modegeschäft, mit einer Schaufensterpuppe, die eine Haube mit grünen Bändern trug. Drei Stufen führten hinauf, eine Tür wurde aufgestoßen: Dort saßen zwei alte Fräulein, wie Porträts aus einer anderen Zeit. Die eine hatte im Schock des Krieges, der alles durcheinanderbrachte, vergessen, seit letztem Samstag ihre Lockenwickler zu entfernen, und die andere schlug immer wieder die Hände gegeneinander und rief:
— Ist es denn möglich, mein Gott!
Sie hielten uns für Verwundete und wurden rührselig. Leider gab es nur eine winzige Kammer unter dem Dach, die seit ihrer Ankunft von den beiden Wanderern belegt war. Aber nun ja, wenn man ein wenig zusammenrückte…
Ich werde niemals den Verschlag vergessen, in dem wir vier, auf ein altes Bettgestell gepfercht, einen langen, von Albträumen geplagten Schlaf verbrachten, aus dem wir uns gegenseitig mit unverständlichen Schreien aufweckten, in dem wir einander schütteln mussten, um uns aus Visionen von Leichen zu reißen, in dem wir dann stundenlang nicht mehr einschlafen konnten und schließlich quer über die Matratze saßen, die Knie ans Kinn gezogen, während wir erneut von den Pferden sprachen, die nicht umfielen, sondern sich dabei nach und nach die eigenen Eingeweide herausrissen, von den Sterbenden, die hastig mit den Toten in den Gräben verscharrt wurden, und von dem entsetzlichen Gestank der Verwesung, der sich in die Kleidung fraß, die Haare durchdrang und so fest in den Schnurrbärten haftete, dass man selbst beim Essen nicht aufhörte, Aas zu riechen.
— Was für ein Buch man darüber schreiben könnte! sagte Rops. Ja, diese ganze Ebene, die von menschlichem Hirn wimmelt, die Toten, knapp unter der Grasnarbe, die als Dünger für den Weizen von morgen dienen werden, der fast wollüstige Gestank dieser gewaltigen Verwesung, die den Gedanken an eine liebende Erde aufkommen lässt…
Und das illustrieren – eine riesige Friedhofsfreske, mit den schaurigen, grotesken Grimassen der Leichen … Sehen Sie, es ist doch nur unsere alte Empfindsamkeit, die uns daran hindert, das Komische im Tod zu erkennen – eine kalte, verkrampfte, schreckliche Komik. Hören Sie: Ich habe dort drei gesehen, am Waldrand gefallen, mit nach oben gedrehten Nasenlöchern, schwarz klaffend in ihrem grünlich-fahlen Pierrot-Gesicht, völlig verrenkt, die Beine unter sich, die Handflächen nach oben – sie sahen aus wie makabre Clowns in einer grotesken Zirkusnummer. Und trotzdem, meine Freunde, während ich Ihnen das erzähle, bekomme ich eine Gänsehaut… Ah ja, ein Buch müsste man schreiben, mit all dieser grotesken Puppenkomödie, genau so, wie sie war! ↩︎
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