„Der große Grenzverkehr“ und die erste Sexmesse der Welt

Im Rahmen der Dokumentarreihe Zeichen der Zeit schickte der Süddeutsche Rundfunk im Jahr 1969 ein Reporter-Team auf eine Kaffeefahrt nach Kopenhagen zur weltweit ersten Sexmesse. Die Resonanz war groß, der Erkenntnisgewinn eher klein.

Vorspiel

Als Dänemark auf Betreiben der Sozialdemokraten und des Justizministers der konservativen Volkspartei 1967 das Verbot von Pornografie in schriftlicher Form abschaffte und 1969 auch pornografische Bilddarstellungen erlaubte, stieß dies auf großes internationales Interesse. Dänemark war damit das erste Land der Welt, in dem Pornografie nahezu ohne Beschränkungen freigegeben war.

In Deutschland wurde die Gesetzesreform zur Abschaffung des Pornoverbots erst 1973 beschlossen und trat schließlich 1975 in Kraft. Nicht nur aufgrund des gesellschaftlichen Wandels, der zunehmend in der Rechtsprechung Widerhall fand, wie beispielsweise im wegweisenden BGH-Urteil zum Erotikroman Fanny Hill, sondern auch wegen des angestiegenen Pornoschmuggels aus dem Nachbarland Dänemark, war eine Liberalisierung unumgänglich geworden. Zoll und Polizei sahen sich außerstande, dem Problem Herr zu werden. Der damalige Leiter der Bundesprüfstelle für jugendgefährdente Schriften, Rudolf Stefen, stellte resigniert fest, dass die Pornowelle nicht mehr aufzuhalten sei. 1969 wurde von offiziellen Stellen der Gesamtumsatz der dänischen Pornoindustrie auf 200 Millionen DM geschätzt, wovon der Export nach Deutschland etwa 30 Millionen ausmachen sollte.

Neben dem erstarkten Pornohandel wirkte sich die dänische Pornofreigabe auch auf den Tourismus aus. Scharen von Besuchern aus allen Ecken der Welt pilgerten in die Hauptstadt Kopenhagen, um sich in Sex-Shops mit Material einzudecken und Porno-Kinos und Live-Shows zu besuchen. Deutsche, die von den Anbietern mit deutschsprachigen Produkten und Zahlung in D-Mark geködert wurden, dürften dabei den Großteil der ausländischen Besucher ausgemacht haben.

Der dänische Porno-Produzent Otto Tjerrild wollte die neugewonne Freiheit mit einem Paukenschlag feiern und organisierte zusammen mit der Porno-Firma Rodox Trading die erste Sexmesse der Welt. Die Sex 69 fand vom 21. bis 26. Oktober 1969 in den K. B. Hallen in Kopenhagen statt. Die Türen waren täglich von 16 bis 24 Uhr geöffnet. Die Messe verzeichnete knapp 50.000 Besucher, von denen immerhin etwa 20 Prozent Frauen gewesen sein sollen.

Die Initiatoren der Sex 69 machten keinen Hehl aus der Tatsache, dass die Messe in erster Line dazu da war, den Verkauf dänischer Pornoprodukte im Ausland zu fördern und versprachen: „Wir zeigen alles, was Dänemark als fortschrittlichstes Sex-Land der Welt zur Lust und Freude hervorzubringen vermag“, wozu Filme, Bilderhefte und Bücher, Massage-Geräte für Damen und Herren sowie Spezial-Unterwäsche zählten, die an den Ständen der Aussteller in Augenschein genommen werden konnten. Als Sonderdarbietungen wurden angekündigt: „ein Sex-Kabarett mit Striptease-Nummern und die exakt rekonstruierte Folterkammer des Marquis de Sade.“

Die Dokumentation

Der Schweizer Dokumentarfilmer Roman Brodmann erstellte im Auftrag des SDR, heute SWR, eine Dokumentation über die Sex 69 für die Fernsehreihe Zeichen der Zeit, für die Brodmann bereits zuvor Filme gedreht hatte.

Für den Sexmesse-Report Der große Grenzverkehr, der am 12.01.1970 in der ARD ausgestrahlt werden sollte, setzte sich Brodmann nebst Kamera- und Tonmann in einen Bus, den der dänische Unternehmer Leif Christensen gechartert hatte, um Sexmesse-Besucher von Hamburg nach Kopenhagen zu gondeln. Hin und zurück: 100 Mark. Stadtrundfahrt und Mittagessen inklusive.

Zu Beginn der Dokumentation erscheint Brodmann mit einem Warnhinweis auf dem Bildschirm, in dem er etwas umständlich die Sendung rechtfertigt und die Zuschauer auf einen möglichen Schock vorbereitet. Im Falle des Unbehagens könnten die Zuschauer ja auch einfach abschalten.

Die Ansage im Wortlaut:

Liebe Zuschauer. Es ist seit Jahren ein Prinzip unserer Sendereihe Zeichen der Zeit, charakteristische Vorgänge im Leben unserer Gesellschaft wenn möglich an einem Ereignis sichtbar zu machen. Seit längerem war uns klar, dass die sogenannte Sexwelle ein echtes Zeichen der Zeit ist, also ein Thema für uns.

Im Oktober des vergangenen Jahres wurde in Kopenhagen die erste Sexmesse dieser frivolen Welt eröffnet. Wir machten uns an die Arbeit. Das Ergebnis, das sie nun hören und sehen werden, setzt beim Betrachter den Willen voraus, ein Zeitdokument als solches anzunehmen und in eigener Verantwortung kritisch zu werten. Selbstverständlich konnten wir nicht einfach wiedergeben, was die Ausstellung Sex 69 in Kopenhagen anzubieten hatte. Wir legten uns in ihrem und in unserem Interesse Beschränkungen auf. Aber ein Bericht über Sexwelle und Pornomesse konnte nicht zu einem Familienprogramm geraten. Es ist unmöglich, eine Zeiterscheinung kritisch zu beleuchten, ohne sie wenigstens in ihren wesentlichen Umrissen erkennbar zu machen.

Wenn diese oder jene Passage unseres Filmes sie schockieren sollte, dann bedenken sie bitte, dass es unter anderem auch unsere Aufgabe ist, bei der Vervollständigung eines wirklichkeitsgetreuen Weltbildes unter Umständen mit unerquicklichen Informationen beizutragen. Wenn sie aber meinen, dass in diesem Fall das Informationsbedürfnis kein Grund sei für möglicherweise verletzte Empfindungen, dann bitten wir sie ganz ausnahmsweise: machen sie in dieser ohnehin späten Stunde von ihrer Freiheit Gebrauch, ihr Gerät vorzeitig auszuschalten.

Dieser Warnhinweis war im Wesentlichen auf Empfehlung der Rechtsabteilung des Senders entstanden, galt es doch, das Thema mit der nötigen Distanz darzustellen und §184 StGB, der die Verbreitung von Pornografie unter Strafe stellte, zu umschiffen. Man fürchtete nicht nur rechtliche Konsequenzen, auch stand der Ruf des Senders und der Verantwortlichen auf dem Spiel.

Nach dem Warnhinweis wird in den Vorspann übergeblendet und der Tour-Organisator vorgestellt: „Das ist Leif Christensen, 30 Jahre, dänischer Staatsbürger, wohnhaft in Kopenhagen. Früher Schlafwagenschaffner, heute Importeur deutscher Schnäpse und Exporteur dänischer Pornografie. Zur ersten Sexmesse holte er Pornoliebhaber aus Hamburg mit gecharterten Bussen nach Kopenhagen.“

Dass der Sprecher dabei klingt, als läse er aus einer Polizeiakte vor, ist wohl nicht ganz unbeabsichtigt, denn Leif Christensen schildert seine Erfahrungen mit dem deutschen Zoll und empfiehlt, für geschäftliche Porno-Trips über die Grenze den Zug zu nehmen, denn den könnten die deutschen Zöllner im Gegensatz zum Auto nicht beschlagnahmen. Christensen macht auch einen interessanten Vergleich auf: den Pornowaren im Wert von 1 Million, die Zöllner an der deutschen Grenze monatlich einzögen, stünden Pornowaren im Wert von 60 Millionen im Jahr gegenüber, die Dänemark nach Deutschland exportiere. Dies dürfte vermutlich eine akkuratere Schätzung sein, als die oben zitierten 30 Millionen.

Als der Bus die deutsch-dänische Grenze passiert, läutet Christensen über die krächzenden Buslautsprecher den Bordverkauf ein, süffisant kommentiert vom Off-Sprecher: „Der Kaufmann aus Kopenhagen ist rührend besorgt um das Wohl seiner Gäste. Er nimmt ihnen das Geld, das sie für Pornografie in Kopenhagen ausgeben wollten, schon auf der Hinfahrt aus der Tasche.“

Christensen stellt den Fahrgästen eine junge Dame namens Vivi vor, „18 Sommer alt“, die Pornoheftchen der Verlage Private und Color Climax für 5 Mark anbietet. Laut Christensen sollte es kein Problem sein, vier bis fünf dieser Hefte als „Reiselektüre“ nach Deutschland einführen zu können. Das Angebot wird gerne angenommen und die Nachfrage steigt noch weiter an, als Vivi ihr Oberteil auszieht und die Waren mit blankem Busen anpreist. Christensen betont, dies sei der erste Oben-Ohne-Bus in Dänemark.

Bei Vivi, die der Sprecher durchweg fälschlich Bibi nennt, handelt es sich um Vivi Rau, die ab 1973 in einigen Filmproduktionen mitspielte, darunter die ersten beiden Teile aus der dänischen Tegn-Reihe mit Ole Søltoft: I Jomfruens tegn (in Deutschland: Venus-Passage) und I Tyrens tegn (Graf Bobby und seine Nichten). Vivi war außerdem als Model in etlichen relevanten Sexgazetten im In- und Ausland zu sehen. Die Dokumentation dürfte einer ihrer ersten öffentlichen Auftritte überhaupt gewesen sein. Nachdem ihre Ehe scheiterte und sie alleinerziehende Mutter wurde, zog sie sich ein paar Jahre später auch schon wieder aus der Sex-Branche zurück und wechselte ins Gesundheitswesen.

Während der Bordverkauf im Bus läuft, werden Szenen aus dem Kopenhagener Bahnhofsviertel mit seinen Porno-Shops eingeblendet, wobei der Sprecher sich in herablassendem Ton an Satire versucht. So heißt es etwa:

Die dänische Pornografie wurde mit der Legalisierung drucktechnisch komfortabler. Anspruchsvolle Konsumenten denken bitter lächelnd zurück an die schwarzweißen Behelfsdrucke aus der Notzeit. Jetzt ist alles farbig geworden, nur die Darsteller sind immer noch die gleichen: Matrosen, Zuhälter und Prostituierte, die sich meistens unter der Gürtellinie porträtieren lassen. Zu ihrem Vorteil übrigens, wenn man ihre Gesichter kritisch betrachtet.

Die Produkte werden zum zehn- bis zwanzigfachen Herstellungspreis verkauft, ob schon sie hier schon nicht mehr heiße Ware sind. Noch gibt es genug Ausländer, die bereit sind, die große Exklusivität auch exklusiv zu bezahlen, denn zu Hause kostet ja alles noch mal so viel.

Die Frage, was es Neues gibt in der Pornobranche, ist schnell beantwortet: nichts. Es ist alles in Wort und Bild beherrscht von zehn bis zwölf seit Jahrhunderten bekannten Variationen zu einem Thema. Aber zu Tausenden steigen sie täglich hinab in die kleinen Läden, um sich eines längst bekannten Vorgangs mit erstaunlicher Neugier zu vergewissern.

Die Kritik mutet etwas seltsam an, in Anbetracht dessen, dass zwischendurch immer wieder Vivis Brüste in Großaufnahme gezeigt werden. Die Dokumentation driftet an dieser Stelle selbst in schlüpfrig-seichten Voyeurismus ab.

Einige Impressionen aus dem „Pornoquartier“ in Kopenhagen:

In der nächsten Szene interviewt Brodmann den dänischen Hotelier Paul Lund, ein Anti-Porno-Aktivist, über den auch schon der Spiegel berichtete. Lund beklagt, dass mit der Pornofreigabe das dänische Schamgefühl gestorben sei. Lund kann es nicht fassen, dass ausgerechnet in Dänemark die Freigabe der Pornografie ihren Lauf nahm, denn die Dänen seien doch bekannt als „ein sauberes Volk, geprägt von einem höheren geistigen Leben“. Die Ursache führt er auf die deutsche Besatzung Dänemarks von 1940 bis 1945 zurück. Seitdem sei Dänemark geistig rückwärts gegangen.

Ob dieses Argument schlüssig ist, bleibt fraglich. In linken Kreisen, die der Pornoliberalisierung weitgehend positiv gegenüber standen, wurde hingegen gerne behauptet, die Triebunterdrückung hätte den Nationalsozialismus überhaupt erst ermöglicht. Lunds Gram versteht man allerdings besser, wenn man seine Geschichte kennt. 1939 erwarb er das Rittergut Bramming Hovedgård, um eine Jugendherberge daraus zu machen. Kurz darauf fielen die Deutschen ein, besetzten Bramming Hovedgård und nutzen es als Kaserne. Lund musste gehen und engagierte sich daraufhin im Widerstand. Er wurde beinharter Kommunist, blieb aber treuer Christ. Nach dem Krieg kehrte er zurück und baute das Gut zum Hotel aus, das er – aufgrund der finanziellen Situation unter widrigen Umständen – bis zu seinem Tod im Jahr 1981 führte. Heute dient Bramming Hovedgård als Schule.

Gedenktafel: „Hier ruht die dänische Anständigkeit. Erstickt. Sommer 1969. Wird wiederauferstehen, wenn das Volk erwacht. Errichtet von Freunden.“

In Kopenhagen angekommen geht es für die Bus-Passagiere zunächst zur Stärkung ans kalte Buffet. Einigen der Teilnehmer gefällt es jetzt schon so gut in der Stadt, dass sie ihren Aufenthalt verlängern wollen und sich Hotelzimmer reservieren lassen. Im Anschluss folgt eine Stadtrundfahrt, die an Schloss Amalienborg, vorbei am Vergnügungspark Tivoli, und durch Nyhavn führt. Nyhavn bezeichnet Christensen als das „Kopenhagener St. Pauli“.

In den 1980er Jahren wurden dort weitläufige Fußgängerzonen geschaffen. Wo damals Autos fuhren, sitzen und gehen heute Touristen. Es ist dennoch erstaunlich, wie wenig sich geändert hat. Selbst einige der Lokale tragen noch den selben Namen. Ein Vergleich zwischen Ansichten aus der Dokumentation und den selben Orten aus Google Street View 55 Jahre später:

Schließlich: Ankunft auf der Sex 69. Langsam rollt der Bus an den Menschenschlangen vorbei. Der Andrang ist durchaus beeindruckend. Direkt vor dem Eingang demonstrieren christlich motivierte Aktivisten des Schweizer Jugendkiosks und des CJVM, und nehmen auf Transparenten gleich ganz Dänemark in Kollektivschuld, was der Sprecher der Dokumentation, dem offenbar die antikapitalistische Begründung der Demonstranten wenig gefällt, kritisch kommentiert:

Sie ermahnen die Dänen, nicht sehr geschickt in deutscher Sprache, zu besserer Moral […] Sie verteilen moralisierende Traktate. Auf dem Titelblatt: Rudi Dutschke als gesamteuropäischer Bürgerschreck.

Die eigentliche Berichterstattung von der Messe fällt ernüchternd aus, nimmt sie doch nur einen vergleisweise kleinen Teil der Dokumentation ein und besteht zudem ausschließlich aus kommentierten Standbildern. Dies wurde intern wiederum mit dem Pornografieverbreitungsverbot §184 StGB begründet. Standbilder seien in diesem Sinne unverfänglicher als Bewegtbild. Ein weiterer Grund für die Diashow lässt sich einem Brief der SDR-Rechtsabteilung an den verantwortlichen Redakteur Dieter Ertel entnehmen. Demnach erfuhr das Filmteam erst bei der Ankunft auf der Messe, dass die gesamten Filmrechte an eine deutsche Filmfirma verkauft worden waren und so Filmaufnahmen in den Messehallen nicht möglich waren.

Zu den Bildern, unterlegt mit den Rock-Klängen der dänischen Oben-Ohne-Girl-Band The Ladybirds (nicht zu verwechseln mit der amerikanischen Oben-Ohne-Girl-Band gleichen Namens), lässt der Sprecher der Enttäuschung freien Lauf und gibt diesen Verriss zum Besten:

Die Messe, die der höchsten Lust zu dienen vorgibt, erweist sich als trauriger armseliger Jahrmarkt. Die Erotik, die in unserer Kultur wunderbare Zeichen setzte, hier ist sie auf einen körperlichen Vorgang reduziert. 56 Aussteller halten an 56 Ständen die Ware Sex feil. Oder was routinierte Pornografen eben unter Sex verstehen können. Spannungslose Bett- und Bodenakrobatik mit gynäkologischen Perspektiven in Großaufnahme. Gruppenweise vorgeturnte Geschlechtsakte in öder Monotonie. Sex als Schausport.

Der Reiz der totalen Schamlosigkeit, den nur die Heuchler leugnen, ist sehr schnell vorbei. Dann macht sich die Langeweile breit und Überdruss verdrängt den letzten Rest von Appetit. Ob das zu einer Verwilderung der Sitten führt, möchte man doch sehr in Frage stellen. Die Kopenhagener Bürger, die ungeniert zur Sexmesse kamen, zeigten mehr Distanz zur Sache, als so mancher Moralist, der seine Fantasie an der eigenen Entrüstung enzündet.

Das ist Sex 69. Was übrig bleibt, ist ein starkes Bedürfnis nach Intimität, mit der die trostlose Einsamkeit in der Masse zu überwinden wäre. Und die Erkenntnis eines dänischen Reporters: „Sex ist eine bessere Messe wert“.

Dem Mangel an Berichterstattung direkt von der Messe hätte man mit O-Tönen der Besucher begegnen können. Der Untertitel der Dokumentation lautet immerhin „Die Sexmesse in Kopenhagen und ihre Besucher“. So wird zwar viel über die Besucher gesprochen und gemutmaßt, aber zur Wort kommt keiner von ihnen. Die Beweggründe der Besucher aus erster Hand zu erfahren, hätte interessant sein können. Eine vertane Chance.

Zum Ende hin bemüht die Dokumentation schließlich noch die Wissenschaft:

Es muss eine Antwort geben auf die Frage, ob Pornografie die Sitten verwildern lässt oder ob sie ein Ventil ist für gefährlich gestaute Bedürfnisse. Die Statistik sagt, dass seit der Liberalisierung die Zahl der Triebverbrechen rückläufig ist.

In der Tat war dies eine der Kernfragen, die vor allem von konservativen Kreisen gestellt wurde und die die Debatte in der Öffentlichkeit und in der Politik in Westdeutschland und anderen Ländern, die ebenfalls über die Liberalisierung der Pornografie nachdachten, in den nächsten Jahren prägen sollte. Großen Einfluss auf die Beantwortung dieser Frage hatte der Bericht des Kopenhagener Kriminologen Berl Kutschinsky, der von der amerikanischen President’s Commission on Obscenity and Pornography direkt nach dem dänischen Parlamentsbeschluss der Gesetzesreform in Auftrag gegeben wurde. Auch die Amerikaner hatten Interesse an dem dänischen Vorstoß der Pornofreigabe und erhofften sich Erkenntnisse für die eigene Politik.

Kutschinsky fand heraus, dass Pornografie keinesfalls die „Lüsternheit“ förderte und kein wachsendes Interesse an „abweichenden sexuellen Praktiken“ erzeugte. Sein Fazit lautete: „Die reichliche Verfügbarkeit harter Pornografie in Dänemark ist der unmittelbare Grund für einen wirklichen Rückgang der objektiven Zahl begangener Verbrechen“. Dies stärkte den Befürwortern der Liberalisierung den Rücken.

Nachspiel

Das negative Résumé, das Brodmann von der Messe zog, spiegelte sich auch in einer Begleitstudie wider, die die Kopenhagener Universität durchführte und die per Besucherbefragung ermittelte: „Nur wenige Besucher waren vollkommen zufriedengestellt von der Messe. Die Mehrheit war mehr oder weniger enttäuscht oder gelangweilt. Starke Reaktionen wie Ekel oder Schock waren offensichtlich sehr selten.“

Die Medien waren gespalten. An die 400 Journalisten aus dem Ausland waren in die dänische Hauptstadt gereist, um über die Sexmesse zu berichten. Einen solchen Auflauf an Auslandsreportern hatte Kopenhagen seit Nikita Chruschtschows Besuch fünf Jahre zuvor nicht mehr gesehen. Darunter befand sich auch eine Vielzahl an westdeutschen Reportern. Niemand wollte es sich leisten, auf diese Geschichte zu verzichten.

Während die BILD kein gutes Haar an der Messe lies und Lokalblätter wie die Lübecker Nachrichten gar von einer „abartigen Schau“ sprachen, schien laut der Zeit die Pornoindustrie doch zumindest „blind und unbewusst an der Emanzipation des Sexus“ mitzuwirken. Von linker Seite aus bezeichnete Klaus Budzinski die Messe als „rein kapitalistische Konsumbefriedungsangelegenheit“, woraufhin Henryk M. Broder antwortete, dass auch „eine kapitalistische Konsumscheiße gesellschaftlich emanzipatorisch sein kann“.

Ein Spiegel-Reporter, der ebenfalls den Porno-Bus nach Kopenhagen nahm (ob den selben Bus wie Brodman ist nicht übermittelt), stellte nüchtern fest:

Auf die Bühne trat ab und an ein hauptsächlich mit Stiefeln bekleidetes Damenquartett und schrummte Beatmusik, ein Maler legte sein Gemälde auf einer nackten Dame an und in muffigen Kabuffs liefen Proben jener Schmalfilme, die, obgleich sie stets das gleiche zeigen, immer wieder gern gesehen werden.

Der Mensch möcht’s wissen, wie es andere machen, und diese merkwürdige, kaum rationalisierbare Neugier produziert halt Pornographie. Der Mensch, scheint es, möchte aber auch wissen, was andere haben; selten wurden dem männlichen Gliede so viele Darstellungen gewidmet.

Die Reisenden aus Deutschland, die so hochgemut das Haus betreten hatten, erfaßte alsbald Bedrückung. Schon vor der Zeit versammelten sie sich am Treffpunkt und drängten auf Rückkehr. Es war zuviel auf einmal.

„Tod macht impotent“, scherzte ein Messe-Schild. Ach, Sex auch.

Die Zuschauer von Der große Grenzverkehr waren sich ähnlich uneins wie die Presse über die Messe. Per Brief an den Sender machten schockierte Zuschauer ihrer Empörung über diese „widerliche, ekelerregende“ Reportage Luft. Andere waren enttäuscht und monierten, dass ganz im Sinne des prüden Spießertums in dieser „Sandmännchen-Sendung“ nicht alles gezeigt wurde, was in Kopenhagen tatsächlich zu sehen war.

Die zweite und dritte dänische Sexmesse

Der dänische Porno-Boom sollte nur von kurzer Dauer sein. Ein Jahr nach der Sex 69 wollte der dänische Werbefachmann Ernst Penlau mit einer zweiten Sexmesse, diesmal in Odense auf der dänischen Insel Fünen, für noch mehr Furore sorgen. 100.000 Besucher wurden erwartet, doppelt so viele wie 1969 in Kopenhagen. Doch nur knapp 22.000 kamen, die Messe wurde zum Flop.

Unter dem generischen Namen „Sex-Messen 1970“ fand die Messe vom 19. bis 22. März 1970 statt. Der Eintritt kostete 6 Mark und beinhaltete eine Gratis-Ausgabe der Nacktpostille Weekend-Sex, die ab sofort auch auf Deutsch gedruckt wurde. Neben dänischen Pornoverlegern hatte Messe-Veranstalter Penlau auch Anbieter aus Schweden und Deutschland herangeholt. Ein deutscher Anbieter bewarb u. a. Betten mit eingebautem Filmvorführgerät.

FKK-Sauna, Stripshows und Live-Sex auf der Bühne erwiesen sich als Publikumsmagnete. In den Ausstellungshallen blieb es jedoch ziemlich leer, was auch an den „unglaublich primitiv zusammengebastelten Ständen“ (FAZ) gelegen haben mag. Das dänische Boulevard-Blatt Ekstra Bladet schrieb: „Man hat uns zum Gespött gemacht. Man muss lange suchen, um etwas zu finden, das diesem billigen Zirkus gleichkommt.“ Einem Bericht der New York Times zufolge, machte Veranstalter Ernst Penlau dennoch um die 230.000 Kronen Gewinn (ca. 108.000 D-Mark nach damaligem Umrechnungskurs).

Eine dritte Messe, die 1971 wiederum in Kopenhagen veranstaltet wurde, geriet zum völligen Desaster. Die Messe wurde in den Juni gelegt, um das potenziell lukrative Touristengeschäft abzugreifen. Trotzdem erschienen weniger als 5000 Besucher und die Messe wurde vor Ablauf der veranschlagten fünf Tage vorzeitig abgebrochen. Die Luft war raus.

Während sich in Dänemark die Porno-Begeisterung normalisierte, spekulierten deutsche Zeitungen bereits über das Ende der Pornografie, weil „einige Verleger beim Erwachen nach dem Höhenrausch im Ramsch gelandet waren“, wie die Zeit schrieb. Das satirische Monatsmagazin Pardon gab in einem Nachruf gleich ganz das „Ableben der allseits beliebten Sexwelle“ bekannt.

Doch dieser Abgesang war freilich verfrüht. Auch in Deutschland war der Porno-Konsum mittlerweile auf einem hohen Niveau angelangt, obwohl die Pornografie noch gar nicht legalisiert war. Statistisch gab 1971 jeder deutsche Mann über 18 pro Jahr mindestens 19 Mark für Pornoware aus, was Gesamteinnahmen von 385 Millionen Mark entsprachen. Das war kaum weniger als der Umsatz, der in den deutschen Lichtspielhäusern mit familienfreundlicher Unterhaltung gemacht wurde.

Im Laufe der 70er Jahre verlor die dänische Pornografie zunehmend an Bedeutung und wurde schließlich von heimischen Produkten aus Deutschland, Schweden, Niederlande, Frankreich und den USA überholt, nachdem auch dort die Pornoverbote fielen.

Pornography in Denmark: A New Approach (1970)

Im Zusammenhang mit der Sex 69 muss noch der Dokumentarfilm Pornography in Denmark: A New Approach des amerikanischen Porno-Pioniers Alex de Renzy genannt werden. Während Roman Brodmann für den Süddeutschen Rundfunk an der Oberfläche kratzte und das dänische Porno-Phänomen etwas oberlehrerhaft von außen betrachtete, begab sich zur gleichen Zeit de Renzy mitten hinein ins Geschehen. Embedded journalism an der Porno-Front könnte man sagen.

De Renzy berichtete nicht nur von der Sex 69 (mit Filmmaterial und nicht in Standbildern wie Brodmann), ging nicht nur in die Porno-Läden, Strip-Clubs und andere speckige Spelunken, sondern besuchte auch Pornodrehs und filmte ungeniert mit. Anders als Brodmann musste de Renzy keine Rücksicht auf die Zuschauer nehmen, und die zu der Zeit noch strengen US-Gesetze umschiffte de Renzy. Da die pornografischen Bilder in eine Dokumentation eingebunden waren, taten sich die US-Behörden schwer, ein Verbot zu verhängen. So gelang es de Renzy, den Film in größeren Städten wie San Francisco, Los Angeles und New York ganz offiziell zu vertreiben. De Renzy wollte nicht nur die „schmierigen Lust-Häuser mit Sex-Freaks füllen“, wie er sagte, sondern auch die Mittelschicht in den etwas besseren Kinos ansprechen. Zwar kam es hin und wieder zu Razzien durch die Sittenpolizei, die blieben aber ohne Folgen. Einmal landete de Renzy wegen des Films vor Gericht, wurde aber freigesprochen. Die 15.000 Dollar teure Produktion konnte allein im ersten Jahr 1,5 Mio. Dollar einspielen.

Pornography in Denmark ist keine objektive Dokumentation, kritische Stimmen kommen nicht zu Wort. De Renzy predigt zu den längst Konvertierten, den Befürwortern der Pornografie. Dennoch vermittelt der Film einen oftmals authentischeren Einblick, als es Der große Grenzverkehr vermag. Im Gegensatz zu Brodmann interviewte de Renzy auch Passanten auf der Straße und Besucher der Sex 69, darunter ein deutsches Paar, das zum Urlaub in Kopenhagen weilte und nach all den bekannten Touristenattraktionen der Stadt auch die Pornomesse sehen wollte.

Nahezu zur selben Zeit erschienen von anderen amerikanischen Filmemachern ganz ähnliche Filme wie de Renzys Pornography in Denmark, die mit einem Hang zum Schockeffekt weiter in den Sexploitation- und Mondo-Film-Bereich rückten. Sexual Freedom in Denmark und Pornography: Copenhagen 1970 sind hier zu nennen. Die Pornomesse Sex 69 kommt aber in beiden Streifen nicht vor.

Pornografie in Dänemark – Zur Sache Kätzchen (1970)

Zum Schluss sei noch dieses deutsche Kuriosum erwähnt. In der billigen Sexklamotte Pornografie in Dänemark geht es um den biederen deutschen Brillenverkäufer Bruno Mayer, gespielt von Siegfried Zügel, der geschäftlich nach Kopenhagen reist, dort auf die gar nicht prüde Ulla (Miriam Liv) trifft, und sich von ihr die erstaunlichen Errungenschaften der sexuellen Freizügigkeit in der Stadt zeigen lässt.

Die beiden ziehen durch Sex-Shops, Strip-Clubs, landen bei Pornodrehs und machen auch kurz bei der Sex 69 halt. Dort hat dann Drehbuchautor Günter Vaessen ein Cameo als Reporter, der Besucher interviewt. Diese Interviews sind, wie der ganze Film, nachsynchronisiert und es wurden den Besuchern hier sehr offensichtlich Sätze in den Mund gelegt, die sie nie gesagt haben. Ob die Damen und Herren wussten, dass sie in einem deutschen Sexfilm landen, darf bezweifelt werden.

Als Dr. Renato brachte Regisseur Michael Miller später unter dem Titel Die Liebesschule von Kopenhagen auch noch eine Version mit unpassend eingefügten Hardcore-Szenen raus, die den Film nicht besser machen.

So wenig der Film unterhaltungstechnisch zu bieten hat, und darüber hinaus auch kaum Aufschluss über die dänische Gesellschaft und die Liberalisierung der Pornografie geben kann, so passend ist er doch als Beispiel für die damals gängigen Stereotypen der verklemmten Deutschen und der sexrevolutionären Dänen. Ein beliebtes Klischee, dessen sich viele Filme bedienten. Den Dänen konnten in dieser Hinsicht bald nur die Schweden den Rang ablaufen.

Über die Doppelmoral der Deutschen machte sich schon der dänische Porno-König Leo Madsen – Herausgeber von u. a. Weekend-Sex und Betreiber zahlreicher Sex-Shops – in einem Interview mit Henryk M. Broder lustig. Demnach besuchten die Deutschen Madsens Shops, schauten sich um und fanden alles ganz ekelhaft, nur um dann eine Stunde später wieder zu kommen und die Regale leer zu kaufen. Für Madsen war klar: „Es wird so lange einen Markt für Pornografie geben, wie es Deutsche gibt“.

Literatur und Links

Pornographie und Sexualverbrechen – Das Beispiel Dänemark, Berl Kutschinsky, Kiepenheuer und Witsch 1971

Streit-Zeit-Schrift, Heft VII/1: Pornografie. Dokumente, Analysen, Fotos, Comics, Horst Bingel (Hrsg.), Bechtle 1971

Wie der Sex nach Deutschland kam – Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, Sybille Steinbacher, Siedler 2011

Sex Scene: Media and the Sexual Revolution (Open Access), Eric Schaefer, Duke University Press 2014

Das große Lexikon des deutschen Erotikfilms, Stefan Rechmeier, MPW 2017

Alternative Dänemark, Detlef Siegfried, Wallstein 2023

Wenn das Volk erwacht, Der Spiegel 42/1969
Von Phall zu Phall, Der Spiegel 44/1969
Müdes Lächeln, Der Spiegel 50/1969
Copenhagen hosts Scandinavia’s first pornographic fair, Observer 26.10.1969
Alle Hände voll, Der Spiegel 12/1970
Denmark: Sex Fair 1970, Video British Pathé/Reuters
Sex Fair Termed a Failure By Denmark’s Newspapers, New York Times 21.03.1970
Sex Fair Closes, New York Times 23.03.1970
Sex Trip, Time 20.08.1970
Porno-Markt: Frau Saubermann an der Spitze, Der Spiegel 45/1971
Denmark legalized pornography 50 years ago, The Local Denmark 31.05.2019
Meet the man who made San Francisco the porn capital of America 50 years ago, SFGate 20.02.2020

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