„Wenn es beim Zusammenstoß eines Kopfes mit einem Buch hohl klingt, so muss das, frei nach Lichtenberg, nicht unbedingt an dem Buch liegen.“
Mediatheken-Fund: Ein Panorama-Beitrag von 1964, der einigermaßen kritisch der Frage nachgeht, inwieweit die Bundesprüfstelle für jugendgefährdendes Schrifttum, wie die Prüfstelle damals noch hieß, quasi mit staatlicher Legitimation Zensur betreibt und welche Auswirkungen das auf die Verlage hat.

Zu Wort kommen verschiedene Protagonisten und Übeltäter. Der Geschäftsführer des schon damals umstrittenen Volkswartbundes etwa verkündet nicht ohne Stolz, dass der Volkswartbund zu den maßgeblichen Initiatoren des Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und damit der Schaffung der Bundesprüfstelle gehörte.
Der damalige Oberregierungsrat Robert Schilling, Leiter der Prüfstelle von der Gründung im Jahr 1954 bis 1964, klammert sich an Richtlinien und zitiert die Landesverfassung, die die Erziehung der Jugend im Sinne der Menschlichkeit, der Anständigkeit und der Sauberkeit fordert. An dieser Stelle wird es brisant und Panorama teilt genüsslich aus. Dieser Robert Schilling, der die Jugend vor Erotik und nationalsozialistischem Gedankengut schützen sollte, diente dem NS-Staat als eifriger Staatsanwalt und brachte viele Kritiker des Nationalsozialismus hinter Gittern. Laut dem Buch Die zornigen alten Männer, herausgegeben von Axel Eggebrecht, war er auch SA-Führer. Das hat natürlich ein besonderes Geschmäckle, wenn ausgerechnet solche Personen am Schaltwerk zwischen Zensur und Kunstfreiheit sitzen.
Exkurs: In einem früheren Bericht von 1959 darf Schilling schon einmal die Bundesprüfstelle erklären. Schilling referiert über Bücher, die Jugendlichen aus erzieherischen Gründen vorenthalten werden sollten. Auf die Frage von Reporter Jürgen Neven-du Mont, ob der Jugendschutz also nur die sittliche, aber nicht die geistige Gefährdung umfasse, holt Schilling weit aus, bringt als Beispiel noch die geistige Verarmung durch Comicstrips ins Spiel, kommt aber zu dem Schluss, dass das Gesetz sich abgrenzen will zu den pädagogischen Aufgaben, die den Lehrern und den Eltern vorbehalten bleiben sollten. Das ist nicht ganz widerspruchsfrei, denn durch die Indizierung wird den Eltern ja in die eigene Entscheidung hineingepfuscht.
Gefragt nach Beispielen von jugendgefährdender Literatur, bittet Schilling in die „Bibliothek der beanstandenden Bücher“. Bezeichnenderweise weist Schilling darauf hin, dass die Bedeutung der Bundesprüfstelle nicht nur darin besteht, was beanstandet wird, sondern in gleichem Maß auch indem, was gar nicht erst gedruckt wird. Das ist eine heikle Aussage, kann man hier doch eine Art von Zensur hinein interpretieren, die aber nach Artikel 5 des Grundgesetzes bekanntlich nicht stattfindet.

Als Beispiel zieht Schilling „Vicky Busom – Das verdammte Girl“ aus dem Regal und beginnt aus dem Inhalt zu erzählen. Als es spannend wird, blendet der Beitrag jedoch langsam aus und der Off-Sprecher erklärt: „Ich muss Ihnen, mein verehrtes Fernsehpublikum, die weitere Schilderung ersparen. Denn sie ist viel gemeiner und perverser, als Sie es sich in Ihrer kühnsten Fantasie vorstellen können.“
Was für ein Glück: Zufälligerweise habe ich dieses Buch auch im Regal. In meiner eigenen Bibliothek der beanstandeden Bücher sozusagen. Der Roman heißt eigentlich „The Damned Girl“, obwohl es ein deutsches Buch ist. Im Alka-Verlag, Köln erschien in den 50ern und 60ern eine ganze Reihe von Vicky-Busom-Romanen als reine Leihbücher. Vicky Busom war (natürlich) ein Pseudonym, hinter dem sich diverse Autoren versteckten. Einer von ihnen war Vielschreiber Günter Dönges. Die Romane wurden so beworben, als handele es sich bei Vicky Busom um eine echte amerikanische Privatdektivin, die aus ihrem Leben erzählt.



Vicky Busom entpuppt sich, speziell für die 50er Jahre, als krasser Kracher. Hardboilig, pulpig, blutig. Niemand wird verschont. Die komplette Szene, die Robert Schilling erwähnt, geht so:
In diesem Augenblick schwang ein dumpfer Laut in der Luft. Schwirrend und unheimlich! Dann folgte ein kleiner, spitzer Schrei und unmittelbar ein krachender Aufschlag, – genau in ihren Eisbecher. Es war wie im Theater! Fast eine Bestätigung ihrer Feierlichkeit!
Im ersten Moment begriffen sie nicht, was geschehen war. Und dann brauchten sie etliche Atemzüge, um zu begreifen, was ihre Augen sahen. Es war ein etwa vierjähriger Junge! Augenscheinlich war er aus einem der höchsten Stockwerke des Wolkenkratzers gefallen und auf das Sonnendach des Café Capri geprallt, das unter der Wucht mit einem surrenden, schwirrenden Geräusch barst und den kleinen Körper weiterfallen ließ, bis er auf der Tischplatte aus Marmor – zwischen den beiden – zerschellte.
Starr vor Entsetzen blieb sie einige Augenblicke reglos sitzen, sprang dann mit einem schrillen Schrei auf und nahm den Leichnam des Kindes in die Arme. Es war der Schrei, welcher Frankie vom Spiegel fort wieder auf den Plan lockte […]
Sie schaute ihn eine Weile verständnislos an und reichte ihm plötzlich das Kind: „Da! Warten Sie hier! Ich komme gleich wieder!“. Instinktiv packte er zu, sah im gleichen Augenblick, dass er eine Leiche gefasst hatte, spürte den süßlichen Geruch des Blutes in der Nase und kämpfte mit der Übelkeit. Überwältigt sank er auf einen Stuhl – immer noch mit dem Körper des toten Kindes in den Armen – und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Es wäre ihm vielleicht gelungen, wenn sein Blick nicht auf die zertrümmerte Hirnschale des Kindes gefallen wäre. Von diesem Moment an hatte er nur einen Gedanken. „Ich muss die Leiche loswerden! Ich kann sie nicht mehr ertragen!“ Aber er wusste nicht, wohin damit. Hilflos stand er inmitten der aufgescheuchten Schar seiner Gäste und hielt das tote Kind in den Armen.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Mit fahlen Wangen ging er zur Theke, klappte den Eisschrank auf und zwängte den kleinen Leichnam hinein. „Es ist heiß!“ sagte er den entsetzen Gästen zur Erklärung. Sie waren von dem Ereignis noch derart erschüttert, dass sie mit allem einverstanden waren. Frankie aber sah glühende Kreise vor den Augen, griff instinktiv an die Krawatte und packte in einen Klumpen blutiger Hirnmasse, der dort hängengeblieben war. In panischem Ekel stürzte er auf die Toilette und übergab sich. Minutenlang würgte er und glaubte, selbst hart am Rande des Todes zu sein. Dann erst fiel ihm ein, die Polizei zu benachrichtigen. Mit verfallenem Gesicht schlich er zum Telefon.
Im Panorama-Beitrag stehen den Initiatoren und ausführenden Kräften der Bundesprüfstelle auf der anderen Seite die Verleger gegenüber, die bestimmt, aber im äußerst höflichen Ton der Vernunft, ihrem Ärger Luft machen. Ein Sprecher des Scherz-Verlags ist der Meinung, dass Staat und Bundesprüfstelle es doch lieber den Eltern überlassen sollten, für den Schutz der Kinder zu sorgen und zu entscheiden, welche Literatur gelesen werden darf. Womit wir auch hier wieder bei dem oben erwähnten Widerspruch des Gesetzes wären.
Verleger H.M. Hieronimi vom gleichnamigen Verlag beklagt die finanziellen Einbußen nach Indizierung eines Buchs und den Verlust von Ansehen, wenn sich „der Verleger ernsthafter literarischer Werke in der Nachbarschaft von Striptease-Magazinen und unanständigen Zündholzschachteln auf der Liste des Bundesanzeigers wiederfindet“.
Kein Witz, damals wurden auch „unanständige Zündholzschachteln“ indiziert. Zu dieser Zeit war die Bundesprüfstelle ausschließlich für gedrucktes Text- und Bild-Material zuständig, denn Heimvideo gab es noch nicht. Die große Indizierungswelle von Filmen begann erst in den 1980er Jahren, als die VHS-Kassette große Verbreitung fand.

So wie Verleger Hieronimi zwischen ernsthafter Literatur und Striptease-Magazinen unterscheidet, so bemühen sich auch andere im Beitrag und der Panorama-Reporter selbst, immer wieder auf die Unterschiede zwischen sogenannter „diskutabler Literatur“ und „Schmutz und Schund“ hinzuweisen. Gemäß dem Reporter könne gegen ein Verbot von letzterem ja niemand etwas haben. Diese Doppelmoral ist aus heutige Sicht nur schwer nachvollziehbar.
Einige Jahrzehnte später positionierte sich der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk deutlich stärker gegen besagten Schmutz und Schund. Das ZDF wetterte 1984 in der legendären Reportage Mama, Papa, Zombie gegen Horrorfilme und die ARD feuerte 1990 in Report München gegen den Heavy Metal. Horror, Metal, Punk, Satanismus. Das Böse lauerte angeblich überall und drohte stets die Jugend zu verrohen. In der Folgezeit landeten vermehrt auch Musikalben und Plattencover auf dem Index. Diese Sendungen wirken heute natürlich absurd komisch und bieten feinste Unterhaltung.
Der Panorama-Reporter, im Jahr 1964 noch völlig ahnungslos von Splatterfilm und Metal-Getöse, schließt mit den Worten von Kurt Tucholsky: „Bücher sind kleine Inseln im Meer der Zensur. Sie sollten es bleiben.“

Hinterlasse einen Kommentar